K. Rieder: Netzwerk des Konservatismus

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Titel
Netzwerk des Konservatismus. Berner Burgergemeinde und Patriziat im 19. und 20. Jahrhundert


Autor(en)
Rieder, Katrin
Erschienen
Zürich 2008: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
736 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Hans Ulrich Jost, Section d'histoire, Universität von Lausanne

Liest man den Titel der vorliegenden Studie genau – und dies war bei der öffentlichen, gelegentlich polemischen Debatte nicht immer der Fall –, dann sieht man, dass im Prinzip zwei Themenbereiche zur Diskussion stehen. Es geht einerseits um die Geschichte des Konservatismus und anderseits um die Berner Burgergemeinde, wobei Letztere gewissermassen als Fallstudie für die den Konservatismus allgemein betreffende Fragestellung dient. Letztere kommt in der vorliegenden Studie zwar nicht immer klar zum Ausdruck, doch spielt sie eine Rolle für das Verständnis der Problematik. Es geht in der Tat um die generelle und nicht nur die Schweiz betreffende Frage, wie die Eliten des Ancien Régime sich nach der Französischen Revolution in den neuen, vom Bürgertum beherrschten Nationalstaaten einrichteten und wie sich die aristokratischen oder adeligen Gruppen dem Liberalismus und der Demokratie gegenüber verhielten. Die Historiographie pflegte lange die nicht ganz zutreffende Ansicht, Adel und Aristokratie hätten am Ende des 19. Jahrhunderts, als die Nationalstaaten und der Imperialismus auf ihrem Höhepunkt standen, ihren politischen Einfluss weitgehend verloren. Wie jedoch beispielsweise Arno Mayer in seinem Buch «Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise des europäischen Bürgertums» gezeigt hat, war der Adel um 1900 keineswegs abgehalftert, sondern erlebte insofern eine Renaissance, als er einerseits den Lebensstil des neureichen Bürgertums beeinflusste und andererseits sich in die bürgerliche Wirtschaft integrierte.

Die andere Ebene der Studie, die bei weitem dominiert, betrifft die Berner
Burgergemeinde. Es gibt in der Schweiz rund 2000 Burgergemeinden oder Korporationen, die neben den Einwohnergemeinden ein eigenes Leben führen. Dieser Gemeindedualismus entstand bekanntlich in der Zeit der Helvetik, als die Zentralregierung zwar die Schaffung von Einwohnergemeinden dekretierte, aber, angesichts einer heftigen Opposition, den Burgern ihren Gemeinbesitz sicherte und dessen Aufteilung untersagte. Damit entstand neben der Einwohnergemeinde eine mit Gütern und Nutzungsrechten versehene, aus dem Ancien Régime übernommene Körperschaft mit eigenem Rechtsanspruch. Jene von Bern, die bei weitem reichste Burgergemeinde der Schweiz, hatte 1880 ein Reinvermögen (die Zünfte mit eingerechnet) von 15 Millionen Franken (eine Summe, die drei Vierteln des damaligen Jahresbudgets des Bundes entsprach). Hundert Jahre später schätzte man den Wert ihres Liegenschafts- und Grundbesitzes auf zwei Milliarden Franken, und 30 Prozent des Bodens von Bern befanden sich in ihrer Hand. Wie sich diese Burgergemeinde im 19. und 20. Jahrhundert im Rahmen der liberalen Demokratie durchsetzte, ist das zentrale Thema der Untersuchung von Katrin Rieder.

Nach einer knappen Einführung, in der u.a. die stadtbekannte Madame de
Meuron vorgestellt wird, geht es im zweiten Kapitel um die Ausbildung des Gemeindedualismus und die politische Organisation der Burgergemeinde im 19. Jahrhundert. Die politischen Verhältnisse der Restauration, in der die alten Eliten und die Stadt Bern erneut dominierten, erlaubten den Burgern, ihre Vormachtstellung bis zum liberalen Umschwung von 1831 aufrechtzuerhalten. Das Gemeindegesetz von 1833 anerkannte jedoch, trotz heftiger Auseinandersetzungen, die Personalgemeinde der Burgerschaft. Auch der Ausscheidungsvertrag von 1852, der zwei Drittel des aufzuteilenden Gesamtvermögens der Burgergemeinde überliess, und das neue Gemeindereglement von 1887, das dem «Burgersturm» ein Ende setzte, hatten die privilegierte Stellung der Burger kaum erschüttert. Die Autorin untersucht diese Ereignisse recht gründlich, aber die Auswirkungen des Umschwungs von 1888, als die Freisinnigen die Konservativen im Stadtregiment verdrängten, sind, obwohl in den Kapiteln 3 und 7 erneut aufgenommen, zu wenig systematisch herausgearbeitet.

In Kapitel 3 wird unter einem andern Blickwinkel dieselbe Periode angegangen. Anhand der Biographie von Alexander v. Tavel (1827–1900), dem Organisator der konservativen Kräfte in Bern und auf eidgenössischer Ebene, kommt die Autorin erneut auf das Problem des Gemeindedualismus und die 1880er-Jahre zurück. Dieses Vorgehen, d.h. die mehrfache Behandlung derselben Perioden unter andern Gesichtspunkten, bringt zwar differenzierte Analysen, aber auch zahlreiche Wiederholungen. Das Kapitel über Alexander v. Tavel zeigt hingegen recht gut, wie die Patrizier angesichts des freisinnigen Ansturms ihre Kräfte zu sammeln und zu erweitern vermochten. Dass die Burgergemeinde dabei, wie v. Tavel betonte, einen wichtigen «Stützpunkt und Halt für die konservativen Volkskreise» bildete, kommt in diesem Kapitel gut zum Ausdruck. Die Auseinandersetzungen mit den reformfreudigen Burgern führten jedoch auch zur Modifikation der konservativen Position, ein Aspekt, dem die Autorin zu wenig Beachtung schenkt.

Das Schwergewicht der Untersuchung liegt nun allerdings nicht im politischen Bereich. Die Autorin untersucht vielmehr mit sozialhistorischen Methoden das adlige Selbstverständnis (Kapitel 4), die Innenwelt der Burgergemeinde, die Erziehung der Jugend, das Vereinswesen und die Festlichkeiten – eine so reiche Palette von gesellschaftsspezifischen Fragestellungen, dass sie hier gar nicht vollständig aufgezählt werden können. Dabei wird sehr schön herausgearbeitet, wie nicht allein Besitz, Güter und Einkommen, sondern vor allem auch die Bewahrung des symbolischen Kapitals eine entscheidende Rolle spielten. Mit symbolischem Kapital – ein Begriff aus Bourdieus Gesellschaftstheorie – verstehen wir Bildung, kulturelle Werte, gesellschaftliche Konventionen, Umgangsformen und rituelle Anlässe, mit denen eine soziale Gruppe ihren spezifischen Charakter und ihre gesellschaftliche Stellung verteidigt, festigt und ausbaut. Die Stärke der Bernburger lag eben gerade darin, dass sie sich nicht in erster Linie in den politischen Kampf verbissen, sondern beständig und mit grossem Aufwand ihr symbolisches Kapitel pflegten. Es wird gut aufgezeigt, wie die geselligen Anlässe in den Zünften, der Bogenschützengesellschaft oder der Grande Société bei der Sozialisierung der Aristokratie funktionierten und wie diese Repräsentationsrituale das Bild der Burger in der Öffentlichkeit prägten. Mit dem Bau des Casinos, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, wurde dann sogar ein Ort geschaffen, wo das nun schon ziemlich konservativ gefärbte Bürgertum der Stadt sich den Burgern nähern konnte. Zum Aufbau von symbolischem Kapital zählt auch die Betreuung der Geschichte, d.h. die Kontrolle bei der Vermittlung der Erinnerung, eine wesentliche Rolle. Es erstaunt deshalb keineswegs, dass die Burgergemeinde bei der Schaffung und der Leitung des Historischen Museums massgebend Hand anlegte.

Obwohl das Kapitel 5 mit «Organisationsstruktur und Kategorien sozialer
Hierarchie» betitelt ist, kommen hier z.T. erneut die zuvor angegangenen Themen zur Sprache. Man fragt sich, ob mit einer etwas stringenteren Struktur Themen wie Pflege von Tradition und Geschichte, Vereinsleben, Feste, Erziehung usw. nicht besser hätten herausgestellt und analysiert werden können. Etwas schmal scheint mir auch die Behandlung der Erziehung und Ausbildung der männlichen Jugend, die zwar in einigen Biographien, aber insgesamt nur spärlich zum Ausdruck kommt. Nicht nur die «Lerberschule», d.h. das Freie Gymnasium, sondern auch die Aufenthalte in den verschiedenen Universitäten des In- und Auslandes bildeten wichtige Orte, wo die jungen Aristokraten oft lebenslange Bekanntschaften knüpften. Interessant ist in diesem Kapitel hingegen die Darstellung der Prozeduren für eine Aufnahme in die Burgergemeinde; wie auch im gesellschaftlichen Verhalten insgesamt zeigt sich hier eine Praxis der exklusiven Absonderung, die ohne Zweifel den Kritikern der Burgergemeinde auch heute noch viel Stoff liefert.

Schon mit dem Kapitel 5 ist man ins 20. Jahrhundert vorgedrungen, und dieses wird im 6. Kapitel mit einem sensibeln Thema, «Aristokratie und Frontenbewegung», weiter verfolgt. Zum Verständnis dieses Problemkreises müsste vorerst festgehalten werden, dass beim Aufkommen rechtsradikaler Bewegungen, und insbesondere auch beim Ausbau der Partei Hitlers, rechtskonservative Kreise insgesamt, aber auch der Adel, eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben. Diese Konvergenz, ein gesamteuropäisches Phänomen, zeigte sich auch in der Schweiz. Es genügt, auf die Rolle von Gonzague de Reynold, den Freiburger Aristokraten und Berater der katholisch-konservativen Bundesräte der Zwischenkriegszeit, hinzuweisen. Wenn die Bernburger auch nicht in aussergewöhnlichem Masse im helvetischen Rechtsradikalismus aktiv gewesen waren, so fanden sich doch einige ihrer Vertreter in Kreisen, die der Frontenbewegung nahe standen. Ein spektakulärer Fall, der in diesem Buch besonders herausgestellt wird, war Georg Thormann, der für kurze Zeit als Gauführer der Nationalen Front in Bern die so genannten Erneuerungsbewegungen leitete. Diese Geschichte ist nun insofern nicht leicht abzutun, weil die Burgerschaft Thormann 1968 zu ihrem Präsidenten wählte, ohne dessen frontistische Vergangenheit zu diskutieren.

Unter dem Titel «Symbolische Herrschaft und symbolische Macht» analysiert
die Autorin im 7. Kapitel – dem längsten und komplexesten – Struktur und Funktion der Burgergemeinde im 20. Jahrhundert. Es handelt sich um einen langen Zeitabschnitt mit einer vielschichtigen Problematik. Die Burgergemeinde kämpfte nun nicht mehr um eine offene Vorherrschaft in der Stadt, sondern begnügte sich mit der Erhaltung von Einfluss und Prestige, ein Vorgehen, das die Autorin als «neue Strategie der Selbstdarstellung, die Legitimitätsgrundlage zu stabilisieren» umschreibt (S. 401). Neben dem Einsatz für öffentliche Werke (Casino, Historisches Museum) und der Pflege der Altstadt bildete die Bodenpolitik einen gewichtigen Faktor zur Einflussnahme auf die Stadtentwicklung. Einzelne Aspekte – oder Affären – werden, wie etwa der Abbruch der Kocherhäuser im Villettequartier, stark hervorgehoben. Es ist hingegen schwierig, sich gesamthaft ein Bild über die vielfältigen Auswirkungen der burgerlichen Bodenpolitik zu machen. Klar wird jedoch, dass die Burgergemeinde mit ihrem Boden- und Immobilienbesitz und den wichtigen persönlichen Beziehungen in Politik und Wirtschaft weiterhin über beträchtlichen Einfluss und Macht verfügte.

Über das Patriziat am Ende des 20. Jahrhunderts handelt das 8. Kapitel. Es
werden etliche Themen der Kapitel 4 und 5 erneut aufgegriffen: Sozialisation, Integration und Festlichkeiten der Patrizier, die zur Verfestigung des innern Zusammenhalts dienen sollen. Es wird wiederum, im Sinne von Bourdieu, das ökonomische, soziale und symbolische Kapital thematisiert, Aspekte, die man schon zuvor des öftern angetroffen hatte. Die hier noch angefügten, oft in indirekter Rede wiedergegeben Interviews mit Burgern dienen zur Veranschaulichung der leitenden Thesen. Dieser letzte Teil bringt weder eine neue Sicht noch wird versucht, die Themen in eine Synthese zu bringen. Im Kapitel 9 schliesslich fasst die Autorin ihre Intentionen in Bezug auf ihren Forschungsgegenstand zusammen und fragt sich, ob die Burgergemeinde nun im 21. Jahrhundert doch «Schritte in Richtung Moderne» unternehmen werde. Nun, in einem gewissen Sinne modernisiert hat sich die Burgergemeinde immer, denn nur so konnte sie ihren konservativen und aristokratischen Geist über die Zeiten hinwegführen.

Meine dem Aufbau der Arbeit folgende Besprechung lässt ohne Zweifel die
Reichhaltigkeit, das breite Themenspektrum und die differenzierten Ansätze dieser mehr als zwei Jahrhunderte umfassenden Studie erkennen. Eine dermassen weitgreifende und materialreiche Geschichte birgt jedoch auch erhebliche Gestaltungsprobleme. In der Tat wirft die komplexe Struktur, die zu vielen Wiederholungen führt, viele Fragen auf. Hätte man nicht, wie schon angedeutet, die Geselligkeit, die Feste und Rituale zusammenfassend analysieren können, anstatt an verschiedensten Stellen mit meist gleich lautenden Fragestellungen darauf einzugehen? Fragen muss man sich auch, ob es wirklich notwendig war, die von Bourdieu und Foucault übernommenen konzeptuellen Ansätze immer wieder, und gelegentlich in einem schwer lesbaren Jargon, vorzutragen.

Zitierweise:
Hans-Ulrich Jost: Rezension zu: Rieder, Katrin: Netzwerke des Konservatismus. Berner Burgergemeinde und Patriziat im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich, Chronos 2008, 736 S. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 70, Nr. 4, Bern 2008, S. 63f.

Redaktion
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 70, Nr. 4, Bern 2008, S. 63f.

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